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Jetzt ist es an der Zeit, in Gaza zu trauern

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Jetzt ist es an der Zeit, in Gaza zu trauern

Es ist eine Woche her, seit in Gaza ein Waffenstillstand erklärt wurde. Zum ersten Mal seit 15 Monaten ist der unerbittliche Lärm der Explosionen durch Stille ersetzt worden. Aber dieses Schweigen ist kein Frieden. Es ist eine Stille, die nach Verlust, Zerstörung und Trauer schreit – eine Pause in der Zerstörung, nicht ihr Ende. Es fühlt sich an, als stünde man in der Asche eines Hauses und suche nach etwas, irgendetwas, das überlebt hat.

Die Bilder aus Gaza sind eindringlich. Hohläugige Kinder stehen in den Trümmern ihres ehemaligen Zuhauses. Eltern bewahren die Überreste von Spielzeug, Fotos und Kleidung auf – Fragmente eines Lebens, das nicht mehr existiert. Jedes Gesicht erzählt eine Geschichte von Trauma und Überleben, von unterbrochenen und auseinandergerissenen Leben. Ich kann mich kaum dazu durchringen, hinzusehen, aber ich zwinge mich dazu, denn wenn ich mich abwende, fühlt es sich an, als würde ich sie im Stich lassen. Sie verdienen es, gesehen zu werden.

Als ich meine Mutter anrief, nachdem der Waffenstillstand verkündet worden war, war das erste, was sie zu mir sagte: „Jetzt können wir trauern.“ Diese Worte durchbohrten mich wie eine Klinge. Mehrere Monate lang gab es keinen Platz für Trauer. Die Angst vor dem bevorstehenden Tod verschlang jeden wachen Moment und ließ keinen Raum für Trauer. Wie trauert man um das, was man verloren hat, wenn man ums Überleben kämpft? Aber jetzt, da die Bomben aufhören zu fallen, strömt die Trauer wie eine Flut herein, überwältigend und unerbittlich.

Mehr als 47.000 Menschen – Männer, Frauen und Kinder – sind gestorben. 47.000 Seelen wurden ausgelöscht, ihre Leben wurden auf unvorstellbare Weise gestohlen. Mehr als 100.000 Menschen werden verletzt, viele bleiben lebenslang verstümmelt. Hinter diesen Zahlen verbergen sich Gesichter, Träume und Familien, die nie wieder ganz sein werden. Das Ausmaß des Verlustes ist so groß, dass es unmöglich erscheint, es zu begreifen, aber in Gaza ist Trauer niemals abstrakt. Es ist persönlich, es ist roh und es ist überall.

Die Menschen in Gaza trauern um ihre Lieben und auch um ihre Häuser. Der Verlust eines Hauses ist mehr als der Verlust einer physischen Struktur. Ein Freund von mir in Gaza, der ebenfalls sein Zuhause verloren hat, sagte mir: „Ein Zuhause ist wie dein Kind. Es dauert Jahre, es zu bauen, und du liebst es und möchtest immer, dass es so gut aussieht.“

In Gaza bauen die Menschen ihre Häuser oft Stein für Stein, manchmal auch mit eigenen Händen. Der Verlust Ihres Zuhauses bedeutet den Verlust der Sicherheit, des Komforts, eines Ortes, an dem Liebe geteilt und Erinnerungen entstehen. Ein Zuhause besteht nicht nur aus Ziegeln und Mörtel; Hier entfaltet sich das Leben. Es zu verlieren bedeutet, einen Teil von sich selbst zu verlieren, und in Gaza haben unzählige Familien diesen Teil immer wieder verloren.

Das Haus meiner Eltern, das Haus, das meine Kindheitserinnerungen bewahrte, ist verschwunden. Bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ist es jetzt ein Haufen Asche und verdrehtes Metall. Auch die Häuser von sechs meiner Geschwister wurden zerstört, ihr Leben wurde entwurzelt und wie Trümmer von ihren Mauern verstreut. Was bleibt, sind Geschichten, die wir uns selbst erzählen, um zu überleben – Geschichten über Widerstandsfähigkeit, Ausdauer, vielleicht auch Hoffnung. Aber selbst sie fühlen sich jetzt zerbrechlich.

Für uns außerhalb von Gaza wird die Trauer durch Schuldgefühle verstärkt. Schuldgefühle, weil wir nicht da sind, weil wir nicht den gleichen Schrecken ertragen müssen wie unsere Lieben, weil wir ein Leben in relativer Sicherheit geführt haben, während sie leiden. Es ist eine unerträgliche Anspannung – man möchte für sie stark sein, fühlt sich aber völlig hilflos. Ich versuche an der Vorstellung festzuhalten, dass meine Stimme, meine Worte einen Unterschied machen können, aber selbst das fühlt sich im Vergleich zum Ausmaß ihres Schmerzes unzureichend an.

Die Verlustgeschichte meiner Familie ist nur eine von Zehntausenden. Ganze Stadtteile wurden ausgelöscht, Gemeinden in Staub verwandelt. Das Ausmaß der Zerstörung ist unvorstellbar. Schulen, Krankenhäuser, Moscheen und Häuser – alles liegt in Schutt und Asche. Gaza wurde seiner Infrastruktur beraubt, seine Wirtschaft wurde zerstört, seine Bevölkerung traumatisiert. Und doch halten sie irgendwie durch.

Die Widerstandsfähigkeit des palästinensischen Volkes ist sowohl inspirierend als auch herzzerreißend. Inspirierend, weil sie trotz aller Widrigkeiten weiterhin überleben, wieder aufbauen und von einer besseren Zukunft träumen. Herzzerreißend, weil niemand so belastbar sein sollte. Niemand sollte dieses Ausmaß an Leid ertragen müssen, nur um zu existieren.

Obwohl wir jetzt erleichtert sind, wissen wir, dass jeder Waffenstillstand standardmäßig nur vorübergehend ist. Wie kann es anders sein, wenn die Grundursache dieser Zerstörung – die Besatzung – bestehen bleibt? Solange Gaza blockiert ist, solange den Palästinensern ihre Freiheit und Würde verweigert wird, solange ihr Land besetzt ist und solange Israel vom Westen dabei unterstützt wird, ungestraft zu handeln, wird der Teufelskreis der Gewalt weitergehen.

Waffenstillstände sind keine Lösung; Es handelt sich lediglich um Unterbrechungen, Pausen, eine vorübergehende Atempause in einem Kreislauf der Gewalt, der die Realität im Gazastreifen viel zu lange bestimmt hat. Ohne die zugrunde liegende Ungerechtigkeit anzugehen, sind sie zum Scheitern verurteilt und hinterlassen Gaza in einer Endlosschleife der Zerstörung und Verzweiflung.

Wahrer Frieden erfordert mehr als ein Ende der Bombenangriffe. Es erfordert ein Ende der Blockade, der Besatzung und der systemischen Unterdrückung, die das Leben in Gaza unerträglich gemacht haben.

Die internationale Gemeinschaft kann jetzt, wo der Bombeneinschlag aufgehört hat, nicht wegschauen. Sie müssen Israel für seine Taten zur Rechenschaft ziehen. Die Arbeit zum Wiederaufbau von Gaza ist wichtig, aber die Arbeit zur Bekämpfung der Grundursachen dieses Konflikts ist dringlicher. Es erfordert politischen Mut, moralische Klarheit und einen unerschütterlichen Einsatz für Gerechtigkeit. Alles andere ist ein Verrat an den Menschen in Gaza.

Für meine Familie liegt ein langer Weg vor uns. Sie werden wie immer wieder aufbauen. Sie werden einen Weg finden, inmitten der Ruinen ein neues Heimatgefühl zu schaffen. Aber die Narben dieses Völkermords werden niemals verblassen. Die Worte meiner Mutter – „Jetzt können wir trauern“ – werden mir für immer im Gedächtnis nachhallen und mich an die enormen menschlichen Kosten dieses Konflikts erinnern.

Während ich dies schreibe, überkommt mich eine Mischung aus Emotionen: Wut, Traurigkeit und ein Funke Hoffnung. Wut auf die Welt, weil sie solche Gräueltaten zugelassen hat, Trauer um die verlorenen Leben und zerstörten Häuser und die Hoffnung, dass mein Volk eines Tages Frieden erleben wird. Bis dahin trauern wir. Wir trauern um die Toten, die Lebenden, das Leben, das wir einst kannten und das Leben, von dem wir noch träumen.

Die in diesem Artikel geäußerten Ansichten sind die des Autors und spiegeln nicht unbedingt die redaktionelle Position von Al Jazeera wider.

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